Seit sie in die Fuggerei eingezogen ist, kann sie endlich wieder atmen, endlich wieder leben, sagt Angelika Stibi. Für die 61-jährige Augsburgerin bedeutete der Schlüssel zu der gemütlichen Wohnung in der berühmten Sozialsiedlung nicht nur ein Dach über dem Kopf, sondern auch eine neue Lebensperspektive.
Gestiftet von Jakob Fugger „dem Reichen“ im Jahr 1521, bietet die Fuggerei seit über 500 Jahren bedürftigen Bürgerinnen und Bürgern Augsburgs ein Zuhause. Bis heute gilt sie als einzigartiges soziales Projekt: Wohnraum für Menschen, die unverschuldet in Not geraten sind. Der jährliche Mietzins beträgt noch immer symbolisch einen rheinischen Gulden – heute umgerechnet 88 Cent.
Neues Leben hinter alten Mauern
Wer dort zwischen den schmalen Gassen mit den ockergelben Häusern und den grünen Fensterläden spaziert, spürt den Atem der Vergangenheit. Doch das Leben in der Reihenhaussiedlung ist keineswegs museal. Es ist geprägt von ganz normalen Routinen, Sorgen und kleinen Freuden. Angelika Stibi konnte im April 2025 ihre Wohnung beziehen. Diese ist modern ausgestattet, hat aber ihre Besonderheiten: Der Flur ist mit 500 Jahre alten Steinplatten gefliest, das Wohnzimmer hat ein Parkett, das aus einem Schloss stammt, erzählt sie stolz. Das Fenstersims darin hat sie herbstlich dekoriert – für die vielen Touristen, die hier entlanglaufen. Ab und zu müsse sie beim Fensterputzen Abdrucke von besonders neugierigen Menschen wegwischen, die sich an ihrer Scheibe die Nase plattgedrückt haben, berichtet sie schmunzelnd. Zentral im Flur hat sie das Porträt von Jakob Fugger aufgehängt und einen Rosenkranz darum geschlungen – jeder neue Bewohner bekommt zum Einzug von der Fuggerei-Verwaltung einen Druck des berühmten Dürer-Gemäldes geschenkt. In ihrer kleinen Küche hat sie selbst eine hochmoderne weiße Ikea-Küche eingebaut. Ihr ganzes Glück ist aber ihr Garten, den sie liebevoll von Unkraut befreit hat und in dem nun Rosen, Trauben, Kartoffeln und viele Kräuter wachsen.
Angelika Stibi musste in den vergangenen Jahren viel durchmachen. „Bis zu meinem 55. Lebensjahr hatte ich ein wirklich schönes Leben“, erzählt sie, während sie Tee mit Kräutern aus ihrem Garten serviert. Dann kam die Diagnose Brustkrebs, gefolgt von einem bürokratischen Spießrutenlauf, der sie an den Rand ihrer Existenz brachte. Schnell waren die gesamten Ersparnisse weg. „Ich habe 40 Jahre gearbeitet und in die Rentenkasse eingezahlt. Da hätte ich nie gedacht, dass ich mal Flaschen sammeln müsste oder auf Hartz IV angewiesen bin.“ Doch die Mühlen der Ämter mahlen langsam, und so vergingen Jahre, in denen sie von einer Behörde zur nächsten geschickt wurde – immer mit der Angst, am Ende ganz ohne Dach über dem Kopf dazustehen. „Als ich den Anruf bekam, dass ich eine Wohnung in der Fuggerei bekomme, habe ich mich innerlich drei Kilo leichter gefühlt“, erinnert sie sich.
Das Leben in der Fuggerei ist mehr als nur günstiges Wohnen. Es ist ein Gefühl von Sicherheit, Gemeinschaft und – vielleicht am wichtigsten – Würde. „Hier zu wohnen, das ist himmlisch“, schwärmt Angelika Stibi. „Alle Leute hier haben ein Schicksal. Das verbindet von vornherein, man ist ein bisschen wie eine Familie.“ Nachts kehrt Ruhe ein, die Tore sind geschlossen, ein Nachtwächter sorgt für Sicherheit. „Kein Autolärm, kein Straßenlärm. Wenn ich draußen meine Straße kehre, bleibt sie sauber. Und wenn ich Action will, setze ich mich in den Biergarten der Fuggerei“, schwärmt sie.
Die Sozialsiedlung ist nicht nur ein Refugium für die Seele, sondern auch ein Ort, an dem jeder, der will und kann, mit anpackt. „Wenn ich koche, frage ich die Nachbarinnen, ob sie auch etwas wollen. Wir helfen uns gegenseitig, das ist selbstverständlich.“ Die Gemeinschaft zeigt sich in kleinen Gesten: Ein Eintopf für die ältere Dame nebenan, ein Stück Kuchen für den Nachbarn, der gerade aus dem Krankenhaus kommt, jemand kehrt die Blätter auf den Wegen zusammen. „Man hilft sich, weil man weiß, wie schnell man selbst in Not geraten kann.“
Zwischen Alltag und Geschichte
Hinter den Kulissen sorgt zudem ein Team von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dafür, dass die Fuggerei in Schuss bleibt. Einer davon ist Schreiner Arnd Baumann. Er arbeitet in einer Schreinerei auf dem Gelände und ist zuständig für die kleinen und großen Notfälle des Alltags. Oftmals müssen die Holzfenster repariert werden. „Die Fenster, die Türen – vieles ist hier noch original. Da gibt es keine Normmaße. Jedes Stück ist ein Unikat“, erklärt er. Begeistert zeigt er ein altes Türschloss, das er mit viel Fingerfertigkeit in seine Einzelteile zerlegt, Federn und Riegel geprüft und behutsam wieder zusammengesetzt hat.
„Normalerweise würde so etwas niemand mehr reparieren. Aber hier versuchen wir alles zu erhalten. Das ist manchmal wie Detektivarbeit.“ Den freundlichen Handwerker fasziniert zudem, wie fortschrittlich die Fuggerei schon von Anfang an war. „Früher gab es hier im 1. Stock sogar mechanische Türöffner mit Seilzug“, weiß er. Die habe man mittlerweile durch elektrische Schließsysteme modernisiert. Die originalen Klingelzüge werden jedoch bis heute erhalten und sind bei fast jeder Tür nach wie vor intakt.
Die Geschichten des Schreiners zeigen: Die Fuggerei ist kein Museum, das stillsteht. Sie ist ein lebendiges Quartier, in dem Vergangenheit und Gegenwart ineinanderfließen. Dass die Sozialsiedlung so reibungslos funktioniert und sich finanzieren lässt, ist allerdings nicht immer einfach, weiß Dr. Daniel Hobohm, der seit 2024 als Geschäftsführer in der Fuggerei arbeitet. „Es ist eine faszinierende Aufgabe, eine Organisation zu führen, die seit über 500 Jahren besteht“, sagt der Manager, der zuvor 15 Jahre bei Siemens tätig war. „Wir haben hier ein Stück Weltgeschichte – und zugleich eine große Verantwortung für die Zukunft.“ An seiner Aufgabe weiß er die soziale Komponente zu schätzen: „Man sieht direkt, was man bewirken kann.“ Doch die Fuggerei sei nun mal auch ein kleiner Wirtschaftsbetrieb, der am Leben gehalten werden muss. Finanziert wird sie traditionell aus den Erträgen des 3.200 Hektar großen Stiftungswaldes, aus den Einnahmen der Touristen und zu einem kleinen Teil auch aus Immobilien. „Der Wald war immer das Rückgrat der Finanzierung, aber der Klimawandel macht uns zu schaffen. Die Erträge sinken. Deshalb werden Museumseinnahmen sowie Spenden immer wichtiger für uns“, verrät er. Innovation sei gefragt, ohne die Tradition aus den Augen zu verlieren. Als Administrator hat er in diesem Jahr bereits ein besonderes Projekt in Angriff genommen: „Anlässlich des 500. Todestages von Jakob Fugger haben wir bis Anfang nächsten Jahres viele spannende Formate entwickelt, die zeigen, wie lebendig das Erbe unseres Stifters heute noch ist. So wurde zum Beispiel erst im September eine neue Sonderausstellung in der Fuggerei eröffnet.“
Erfolgsgeheimnisse einer 500-jährigen Institution
Die solide Finanzierung ist eine der Erfolgsfaktoren, warum es die Fuggerei geschafft hat, über 500 Jahre bestehen zu bleiben, während die meisten Organisationen die Jahrhunderte nicht überdauern. Dr. Daniel Hobohm betont, dass es zudem einen Kümmerer oder ein Administratorenteam brauche – das stehe schon in der alten Urkunde. „Wenn ich einfach irgendwo nur günstige Häuser hinbaue, dann werden die irgendwann verfallen.“ Die Verwaltung kümmert sich um viele Bereiche: Sozialpädagoginnen und -pädagogen sprechen mit den Menschen über ihre Probleme und helfen bei alltäglichen Schwierigkeiten. Es gibt wöchentliche Bewohnertreffs, Weihnachts- und Faschingsfeiern sowie einen jährlichen Bewohnerausflug.
Ein weiteres wichtiges Erfolgsrezept: Die Fuggerei ist in der Augsburger Gesellschaft verankert. „Wir sind immer in der Interaktion mit der Stadt. Dann bekommt man auch Aufmerksamkeit und die ein oder andere Unterstützung“, verrät der Administrator. Ein weiterer Aspekt: „Jakob Fugger hat die Fuggerei vor 500 Jahren schon erstaunlich modern gebaut. So hat jede Wohnung ihren eigenen Eingang – einen für die Wohnung unten, einen für die oben. Und die Appartments sind relativ geräumig.“ Die 67 Häuser verfügen über 140 Wohnungen, die zwischen 35 und 120 Quadratmeter groß sind. Derzeit wohnen 150 Menschen in der Fuggerei. Die Reihenhäuser sind begehrt – und an Bedingungen geknüpft: Man muss in Augsburg wohnhaft sein, bedürftig und katholisch. „Oft liegt das Einkommen der Bewerber sogar noch unter der offiziellen Bedürftigkeitsgrenze“, hebt Dr. Daniel Hobohm hervor. Eine weitere Bedingung, die Jakob Fugger festlegte, war, dass jeder Bewohner täglich drei Gebete sprechen muss, das Vaterunser, ein Ave Maria und ein Glaubensbekenntnis. Überprüfen könne das selbstverständlich keiner. „Natürlich macht man das“, sagt Angelika Stibi. „Wenn ein Freund Geburtstag hat, dann überlegt man sich ja auch, was man ihm schenken kann. Und Jakob Fugger hat mir so eine tolle Wohnung und so einen Garten zukommen lassen – er ist ein guter Mensch und mehr als ein Freund. Wenn ich dann Danke sagen kann, indem ich für ihn bete, dann mache ich das doch.“